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Antiquarisches Buch

Eisbrecher

«Grau, teurer Freund, ist alle Theorie
und grün des Lebens goldner Baum.»

Johann Wolfgang von Goethe, (1749 bis 1832), deutscher Dichter

Nebst Paragraphen, Gerichtsakten, Anklageschriften und Verteidigungsplädoyers, habe ich eine Vorliebe für Skurrilitäten, lebens- und liebenswerte Begebenheiten, ernsthaft Wichtiges, zwischenmenschlichen Begegnungen, Schriften und Bilder aller Art. Ihnen sei diese Seite gewidmet. Sie möge den Ernst und die oft schwerwiegenden Probleme etwas auflockern. Alle Beiträge gehören zu meinem ganz persönlichen Ich.

§ Lobbying für gemobbte Tomaten

Lobby für gemobbte Tomaten

Der «Apéro riche» war wirklich «riche». Da gab es auf Silberschüsseln – vielleicht waren es halt doch nur silbern glänzendes Metall – in Silberlöffelchen Crevetten, badend in einer raffiniert gewürzter Cocktailsauce, Datteln, umhüllt mit feinen Speckröllchen, Omelettrollen, gefüllt mit Thonmousse, kleine, knackige Frühlingsrollen, Rindfleischtatar mit Sauerrahmhaube im Rosmarintartelette und weitere der Köstlichkeiten, welche die Speicheldrüsen anregen, das Wasser im Munde zusammen laufen lassen. Und dann waren da noch kleine Spiesschen mit leuchtend roten Cherrytomaten, frischen Basilikumblättern und Mozzarellakügelchen. Wie gesagt, es war ein «Apéro riche extraordinaire». Die Gäste waren begeistert, die Stimmung ausgezeichnet, das Geplauder angeregt. Die Silberschüsseln wurden immer sichtbarer, die Delikatessen fanden ihren Weg in die geschmeichelten Mägen. Einzig die ebenfalls vorzüglichen Tomaten-Mozzarella-Basilikum-Spiesschen fanden kaum Beachtung. Überall Silber, nur an einem Ort leuchtete noch Rot-Weiss-Grün.

Da geschah es: völlig entnervt begannen die Tomaten zu weinen, ihre kleinen Kerne kullerten wie Tränen aus den Früchten. Unterstützt wurden sie vom Mozzarella, der zu schwitzen begann und den Basilikumblättern, die aus Protest schrumpelten und Ansätze von braun Verwelktem zeigten. Doch niemand schien das zu bemerken, die Tomatenspiesschen wurden ignoriert und nicht gegessen, geschweige denn ästimiert. Das entmutigte die armen Spiesschen noch mehr, sie wollten ihren Frust in die Welt hinaus schreien. Doch erstens hatten sie keine Stimme und zweitens war das Geschwätz der Partygäste derart laut, dass alles übertönt wurde. Einzig eine sehr sensible und engagierte Juristin entdeckte die darbenden, dahinserbelnden und enttäuschten Leckerbissen. Und das auch nur, weil sie ein äusserst eingebildeter, eitler Langweiler mit irgendwelchem belanglosen Geschwätz belaberte.

Sie beschloss Lobbyisten für die Gemobbten zu finden und animierte sie, sich der Unglücklichen anzunehmen und ihre Daseinsberechtigung wieder mit Stolz und Anerkennung zu füllen. Da aber kaum italienische Gäste vor Ort waren, stand sie auf verlorenem Posten. Schliesslich blieb ihr nichts anderes übrig, als aus Mitleid alle zu vertilgen. Leider leidet sie seit diesem Abend unter einer Tomatenallergie.

Guy A. Lang
Journalist BR Kultur & HR